Freitag, 29. Dezember 2017

Wenn der Strommann zweimal klingelt

„Aber heute nicht mehr, oder?“, fragte die etwas genervte Stimme am anderen Ende der Leitung. Gar nicht so leicht, am Freitag vor Silvester noch einen Elektriker ranzubekommen.
     „Doch, doch, heute noch, wenn möglich!“ antwortete ich. Immerhin steht das Wochenende vor der Tür, Montag ist Neujahr, vermutlich alles dicht, und damit meine ich nicht zwangsläufig wegen Alkoholmissbrauchs.
     Heute also. Denn jede Verzögerung würde mein Urlaubsprojekt zurückwerfen, im Flur einen weiteren Einbauschrank unter die Decke zu hängen. Am Vortag, bei der Planung, durchzuckte mich noch der Gedanke – Vorsicht, Stromkabel! Mach Dir lieber einen Merkzettel dran! Einen Tag später schon war der Gedanke wieder verlorengegangen, im Fluss der Zeit.
     Natürlich traf die Bohrspitze mit traumwandlerischer Sicherheit die eine Stelle, die nicht hätte getroffen werden dürfen. Was übrigens noch einige weitere Ereignisse nach sich zog. Denn als es knallte und die Bohrmaschine zum Stillstand kam, dachte ich erst, die Maschine sei kaputt. Statt sie erst mal genau zu überprüfen, fuhr ich sofort in den nächsten Baumarkt, um eine neue zu kaufen. Erst zu Hause bemerkte ich das Desaster, ich hatte nämlich ausgerechnet das Kabel angebohrt, welches die Steckdose versorgte, die wiederum die Bohrmaschine antrieb.
     „Rufen Sie in einer halben Stunde noch mal an“, sagte die genervte Stimme. Eine halbe Stunde später ist sie diejenige, die mich anruft: „Welche Hausnummer sagten Sie? Ich stehe schon vor dem Haus.“ Donnerwetter, da hatte sich die Stimme vorhin mit halbem Ohr sogar die Adresse gemerkt.
     Die Treppen hoch zum Wolkenschlösschen schleppte sich dann ein müder, alter Mann, nicht mehr weit entfernt von der wohlverdienten Rente. Selbständig, nur er allein mit sich selbst im Unternehmen. Wortkarg, meinen Blicken ausweichend, schaut er sich die von mir bereits aufgestemmte Wand an. Ich merke ihm den Unwillen an, es ist Freitagnachmittag, er mag nicht mehr, will nach Hause, endlich das Jahr beenden. Er zögert, rechnet im Kopf: Kann man das wieder zusammenklemmen? Oder muss eine Unterputzdose her? Womöglich die Wand weiter aufgestemmt und ein neues Kabel verlegt werden? „Ich hab heute noch mehr Termine …“ Er seufzt.
     Und dann, allmählich, passiert etwas Beeindruckendes: Seine Berufung meldet sich. Jene Eigenschaft, die ihn vor langer Zeit diesen Beruf ergreifen ließ. Genau diesen, und keinen anderen. Die Verantwortung, zu helfen. Der innere Zwang, das da, dieses Loch, oben in der Wand, mit den geschundenen Drähten, nicht so zurückzulassen, nicht einfach zu gehen, es auf später zu verschieben, sondern es verdammt noch mal in Ordnung zu bringen. Dieselbe Eigenschaft, die ich auch bei mir erkenne, wenn irgendetwas aus der Reihe tanzt, ein Buch, das schief zwischen den anderen steht, ein einzelner Fingerabdruck auf der gläsernen Tischplatte, der mich zum Putztuch greifen lässt, ein Rechtschreibfehler, der bisher unentdeckt geblieben, mich nun, nach seiner Enttarnung, nicht ruhig schlafen und genervt, mitten in der Nacht, noch einmal den Computer anwerfen lässt.
     Genau diese Eigenschaft lässt den Mann sich erst wieder der Tür zuwenden, treibt ihn dann doch die Leiter hoch und wieder herunter, erneut hinauf, lässt ihn mit den Fingern prüfend die Drähte betasten, um ihn schließlich grummelnd zum Werkzeug greifen und die Arbeit erledigen zu lassen. Sofort, ohne Verzug.
     Als er mir am Ende den Preis nennt, für diesen spontanen Rettungseinsatz, ist mir das fast ein wenig peinlich. Die überteuerten Phantasiepreise von Schlüsselnotdiensten im Sinn, von denen man gelegentlich mal im Fernsehen hört, lege ich dieselbe Summe noch als Trinkgeld oben drauf und freue mich über seine glücklich aufleuchtenden Augen, das traurige, genervte Gesicht, das plötzlich wieder freundlich strahlt, als hätte es all die Mühsal der Vergangenheit nie gegeben.
     Eine Geste der Anerkennung. Dafür, dass er zur Stelle war, als ich ihn brauchte. Dafür, dass er faire Preise hatte, in Zeiten, in denen manche Firmen völlig durchgedrehen. Und für ihn als Bestätigung, auch im neuen Jahr so zu verfahren. Weil sich gute Arbeit manchmal eben doch bezahlt macht.
     Den Kontakt gibt's gern auf Anfrage.

1 Kommentar:

  1. Netter Artikel, den sollten Sie mal an eine Zeitung schicken.

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